17. April 2024 - Bhaktapur
KM 21.716
Und dann johlt die Menge und das Aufbranden Tausender Stimmen fegt über den Taumadhi Platz. Wir sind in keinster Weise vorbereitet auf das Schauspiel, was hier gerade die Massen begeistert. Der Platz ist zum Bersten mit Menschen gefüllt. Eine wogende Menge schwarzer Haarschöpfe, die unablässig in Bewegung ist. Jung, alt, Kinder, alles drängt hier auf den Taumadhi Platz. Die Luft ist erfüllt von den frenetischen Rufen der Menschen. Jubel, Protestschreie, Gelächter, Anfeuern. Ein alter, zahnloser Mann knufft mich begeistert in Seite, nickt mir aufmunternd zu und auf meinen fragenden Blick hin, lacht er mich strahlend an. Doch dann schiebt sich die wogende Masse in unsere Richtung, der alte Mann wird gegen mich gedrückt, was seiner guten Laune keinen Abbruch tut. Er lacht bis ihm das verblichene Dhaka Topi vom Kopf rutscht . . .
Im rötlichen Abendlicht schlendern wir versonnen durch Bhaktapurs Altstadt. Es ist angenehm warm, die Menschen sind fröhlich, sehr entspannt und in Kombination mit den alten newarischen Kaufmannshäusern, hat Bhaktapur einen sehr großen Wohlfühlcharakter für uns. Die blassroten Ziegelsteine der niedrigen Häuser sind von der Sonne aufgeheizt und geben eine wohlige Temperatur in die Gassen ab. Nach einer ausgedehnten Kaffeepause im Himalayan
Java Coffee House wandern wir Richtung Dattatraya Tempel, der in einem anderen Stadtteil von Bhaktapur liegt. Das Stadtbild Bhakltapurs schwankt immer zwischen Filmset und einer historisch gealterten Stadt, die ihren eigenen, jahrhundertealten Charme bewahren konnte. Die Kombination aus stark dekorierten Holzelementen und dem zurückhaltenden blassroten Ziegelstein, macht für den Betrachter ein ziemlich ausgewogenes Bild. Manche der alten Fassaden werden immer noch von Stahlträgern gestützt, die vom schwarzen Tag des
verheerenden Erdbebens künden. Bhaktapur muss es ziemlich erwischt haben, doch die Bürger haben aus eigener Kraft - ohne staatliche Hilfe - die meisten Schäden beseitigt. Obwohl der Palast der 55 Fenster, am Durbar Square, immer noch auf eine Grundsanierung wartet. Irgendwie ist es den Menschen aus Bhaktapur gelungen, die Schnittmenge zwischen historischem Stadtbild, stolzer Tradition und auch Normalität zu erzielen, ohne einen puppenstubenähnlichen Museumscharakter zu bekommen. Es gibt zwar jede Menge Tourishops
- der geneigte Leser erinnert sich - Weine und Kohlen, Asterix bei den Avernern - doch die sind nur in wenigen Gassen ansässig. Der überwiegende Teil der hiesigen Geschäftswelt sind tatsächlich Läden, wo der Bewohner von Bhaktapur einkauft. Hier gibt es in unmittelbarer Nähe zu historischen Wahrzeichen eben Lebensmittel, Elektronik und natürlich auch die ortsansässigen WMF-Shops, die Kohlebecken, Woks, Blechpfannen und -töpfe anbieten. Am
Pottery Square, wo Jahrhunderte lang Keramiken gefertigt wurden, lagert in den Ecken ausgehärteter Ton, meist nur notdürftig mit einer abgerockten Plastikplane verhüllt. Bhaktapur finanziert aus den "Altstadttickets" eine große Anzahl an Reinigungsleuten, die unablässig durch die Gassen wuseln. Man hält die Stadt sauber, doch sie ist letztlich nicht unnatürlich steril für die Touristen aufgehübscht. Trotz aller historischer Denkmäler, "lebt" Bhaktapur und die
Menschen hier sind ziemlich normal, so ohne einen aufgesetzten Tourismuscharme. Da kann man schon mal von einer ungeduldigen älteren Dame, die einem nur bis zur Brustwarze geht, mit der flachen Hand beiseite geschoben werden, wenn man ihrem Termindruck im Wege ist, weil man unnötigerweise alltägliche Holzschnitzereien in der ersten Etage bewundert. Jawohl, dass kann man sich nur in Bhaktapur erlauben.
An jeder Ecke hier gibt es was zu sehen, wirklich, manchmal tut mir Anni regelrecht leid, weil ich so versonnen an jeder Ecke stehen bleibe und mit großen ungläubigen Augen Wandnischen
bestaune. Spannend sind besonders die Brunnensysteme, die hier an jeder Ecke, in nahezu jedem Stadtviertel zu finden sind. Das sogenannte Hiti-Wasserversorgungssystem gibt es im gesamten Kathmandu-Tal, schon seit dem 14. Jahrhundert, und es ist dafür bekannt, dass es Wasser aus den umliegenden Bergen in die Zentren der Städte des Tals lieferte. Bis heute werden diese Brunnen betrieben und auch eifrig genutzt. Bei einem Spaziergang durch die Altstadt, begegnet einem immer mindestens ein Nepalese, der mit Handtuch und Zahnbürste
bewaffnet, einem der Stadtteilbrunnen zu strebt. Die Brunnen gleichen sich nicht, sie sehen immer anders aus und sind auch situativ in das bauliche Umfeld integriert. Oft haben die Brunnen Formen hinduistischer oder buddhistischer Fabelwesen, das Hitimanga genannt wird, worauf der Name - Hiti-Wasserversorgungssystem herrührt. Bhaktapur hat heute in jedem Viertel einen Hiti-Brunnen angelegt, ca 104 insgesamt. Zu einem Hiti-Brunnen gehört in der Regel auch ein Rasthaus, was meist nur eine schattenspendende Konstruktion ist, man sie aber
auch überall in Bhaktapur findet. Spannend finde ich folgenden Fakt, dass sich jede soziale Schicht an der Errichtung von Hiti-Brinnen und Rasthäusern beteiligt. Hier herrscht nämlich die Überzeugung, dass dem Erbauer religiöse Verdienste "angerechnet" werden. Ob und in wie weit diese Praxis noch existiert, kann ich nicht sagen. Etliche Brunnen scheinen nicht zu funktionieren, aber das Erdbeben hat hier auch zu massiven Störungen im Boden und damit natürlich auch an der Kanalisation und Wasserversorgung geführt. Dennoch mag ich diesen Gedanken über Brunnen- und Rasthausbau.
Das Lokalkolorit ist so vielfältig, wie sich uns Nepal ohnehin präsentiert. Das ist tatsächlich einer der schönsten Überraschungen, die Nepal für uns bereit gehalten hat - seine Vielfältigkeit. Außer vielleicht beim Essen. Die Verbeugung der nepalesischen Nouvelle Cuisine, ist die nepalesische Teigtasche, genannt MoMo. Die Schreibweisen variieren: Mo:Mo MoMo, Momo,
Mo Mo, egal, wie dem auch sei, die Teigtaschen gibt es überall - und in jeder Form. Aber natürlich gibt es hier auch wieder internationalen Stress, denn da balgen sich gleich mehrere Küchentraditionen, wer denn nun der Erfinder der MoMos ist. Was die Himalaya-MoMos betrifft, ist nicht genau bekannt, ob sie sich vom Kathmandu-Tal in Nepal, nach Tibet ausgebreitet haben
oder umgekehrt. Aha, so so. Alle nepalesischen Menschen, die wir getroffen haben, sind natürlich der Meinung, dass Nepal der Welt die MoMos gegeben hat. Doch es gibt auch andere Stimmen. Da dieses Gericht ursprünglich bei den Newari im Kathmandu-Tal beliebt war, kann man auch davon ausgehen, dass Karawanen von nepalesische Newari-Händlern das Rezept aus Tibet mitnahmen und nach Nepal brachten. Aha, so so. Einige argumentieren jedoch wiederum, dass MoMos in Tibet von einer nepalesischen Newari-Prinzessin eingeführt wurden, die Ende
des 15. Jahrhunderts mit einem tibetischen König verheiratet wurde. Hmmm, schwierige These und erschwerend kommt hinzu, dass Mome in der Newari-Sprache, einer der ältesten Sprachen Nepals, Kochen durch Dämpfen bedeutet. Was soll ich sagen? Schwierige Kiste! Egal, mir schmecken sie. Es werden alle möglichen Füllungen angeboten, von vegetarisch bis zu Fleischfüllungen. Lecker, also, wenn sie nicht wieder Tonnen von Chiliflocken reinmixen. Übrigens habe ich die Diskussion nicht weiter vertiefen wollen, weil die Chinesen sich dann auch melden würden und der festen Überzeugung sind, dass das eigentlich eine urchinesische Speise ist . . . Fragen über Fragen des Orients!
Wir schlendern einmal zum Dattatraya Tempel, mit seiner dreistufigen Pagodenarchitektur. Der kleine Tempel liegt schön im Abendlicht und hier herrscht kaum noch Betrieb. Genauer werden wir in den kommenden Tagen hier eine Stadtteilerkundung vornehmen, doch nach einen ersten Überblick, ist es hier ziemlich cosy. Die umliegenden Gebäude sind der Hammer, Holzschnitzereien, wohin man nur schaut. Großartig. Doch in Anbetracht der Tageszeit machen wir uns auf den Heimweg und gehen zurück in Richtung Taumadhi Square. Was soll ich sagen,
dort angekommen, stellen wir fest, dass der gesamte Platz völlig mit Menschen überfüllt ist. Überfüllt bedeutet, dicht gedrängt, Mann an Maus, keine Luft dazwischen! Interessanterweise haben wir die brüllende Menge gar nicht gehört, was vermutlich an den verwinkelten Gassen der Stadt liegt. Wir geraten mitten hinein, in das traditionelle Neujahrs-Tauziehen der oberen und unteren Stadtteile. Jawohl mitten rein. In der Mitte des Taumadhi-Platzes rupfen Hunderte von jungen Männern an dem massigen, dreistöckigen Wagen des Bhairab rum. Hier gehts ab, wie bei der Fußball WM. Die eine Combo versucht den Wagen nach "unten" zu ziehen, die anderen Jungs halten dagegen und wollen den schweren Wagen in die Oberstadt bringen. Doch
die Jungs von "oben" haben die besseren Karten oder vielleicht die dickeren Muskeln, wer weiß das schon. Die Menge weicht zurück und wir drücken uns in eine Hausecke, als der Wagen ungebremst in unsere Richtung rumpelt. Alles wackelt, alles rappelt - Kunststück - der ganze Wagen ist komplett aus Holz gefertigt, alles gesteckt, nichts genagelt oder geschraubt. Doch am Ende gewinnt die Oberstadt und mit einer totalen Euphorie bringen die Jungs den Wagen direkt an uns vorbei, den Berg rauf. Was ein Spektakel. Jedes Jahr gibt es haufenweise Verletzte, was mich kaum wundert, denn diese Holzwagen sind schwer zu lenken, die Achsen dick wie
westfälische Dachsparren, die Räder lose auf einer Halterung und im Eifer des Gefechts, kann so ein Wagen auf dem holprigen Altstadtpflaster schon mal sprunghaft die Richtung wechseln. Aber, alles ist glimpflich verlaufen, ich konnte das Spektakel auf Film bannen und nun ist offiziell Neujahr in Nepal! Prost 2081! Wunder über Wunder des Orients. Bonne nuit folks!
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