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AutorenbildIngo

Der Barbier von Delhi . . .

25. Februar 2024 - Delhi

KM 19,091


Nach einer sehr erholsamen Nacht in unserem neuen Hotel, beschieße ich, dass heute der Tag für meinen ersten indischen Friseurbesuch ist. Jawohl. Von dem Beschisshotel in Mahipalpur, sind wir 5 Kilometer ostwärts gezogen, direkt neben das große und auch wohl international bekannte Institue of Liver and Biliary Science. Das Hotel ist somit eher auf überregionale Anverwandte von Krankenhauspatienten ausgerichtet. So bietet das Umfeld, Cafés, einen richtigen Bäcker, ATM´s (die auch funktionieren) und nächtliche Stille, denn in der Krankenhausregion zu hupen, zieht drakonischen Strafen nach sich. Außerdem gibt es ums Eck auch einen Barbier. Obwohl mein letzter Besuch in einer Herrencapperei noch nicht so lange zurückliegt, sehe ich aus, wie ein Hippie oder wahlweise auch wie ein Hobbit. Tony in Vientiane war ja mehr so der experimentelle Typ und hat sich an drei Haaren ewig aufgehalten, sodass ich jetzt irgendwie meinen Mob loswerden muss. Um kurz nach 10 Uhr betrete ich das "Etablissemang", wie meine Großmutter es genannt hätte. Im Akkord arbeiten an vier Friseurstühlen die Herren des schnibbelnden Gewerbes. Vor jedem Stuhl ist ein Waschbecken in eine durchlaufende Arbeitsfläche eingelassen, mit dahinter befindlichen Spiegeln. Rückwärtig ist eine Holzbank, auf der die wartende Kundschaft Platz nehmen kann. So weit, so gut - wie bei uns. Doch, nun ja, wie soll ich es vorsichtig formulieren, gibt es doch Unterschiede. Hier redet niemand, der Besuch des Barbiers scheint in Indien eine ernste Sache zu sein. Aha, so so. Ich frage laut fröhlich in die Runde, ob ich einen Termin brauche. Der Chefschnibbler wackelt mit dem Kopf und deutet mit energischer Zusatzwackelei auf die Holzbank, wo zwei indische Tageszeitungen liegen, alles in lustiger Blümchenschrift natürlich. Wirklich, kein Mensch sagt etwas, die Arbeit scheint mit höchster Konzentration von statten zu gehen, so viel ist mal sicher. In der rechten oberen Ecke hängt ein großer Flatscreen, immer noch in Plastikfolie verpackt - versteht sich - und es läuft die Sendung 160 Minutes Music nonstop. Während ich so eingehend die Arbeit der Herren beobachte, öffnet sich die Tür und ein älterer Mann betritt den Salon. Wortlos setzt er sich neben mich, schlägt ein Bein über das andere - ohne seine Latsche - und beginnt die Tageszeitung zu lesen. Alles wie bei uns, vielleicht nicht unbedingt der hellbraun geblümte Schlafanzug, in dem er die Capperei aufsucht. Aha, so so. Bringt niemanden aus der Ruhe. Hier geht man halt im Schlafschüppi in den Salon. Ok, warum nicht. Vor mir wird gearbeitet, dass sich die Balken biegen, Da werden Scheitel gezogen, Haupthaar ausgedünnt und auch Nacken ausrasiert. Verdächtig synchron gehen die Schibbler zu Werke und irgendwie haben alle am Ende eine identische Frisur. Ich schau mich um, hier hängen auch gar keine Frisurabbildungen, wie sonst so üblich. Aha, so so. Immerhin gibt es eine Ausnahme, dem Herrn ganz rechts, wird gerade eine permanente schwarze Tattoofläche auf den völlig kahlen Schädel angefärbt, so in Form einer Berlusconi-Frisurlinie. Nun gut, ich harre einfach mal der Dinge die da kommen.

Normalerweise bin ich nicht so empfänglich für Musikvideos, doch hier kommt man nicht aus dem Staunen heraus. Jeder Clip hat das gleiche Thema, den gleichen Rhythmus und auch den gleichen Ablauf. Basierend darauf haben die indischen Musikproduzenten immerhin zwei verschiedene inhaltliche Konstrukte. Plot eins ist, dass die holde Schöne, immer in hellen Farben gekleidet, den schüchtern hübschen Jüngling anschmachtet - mit ordentlichem Jingelingling Gesang. Der wiederum, wird noch von einem weiteren, etwas minder Schönen, immer dunkel gekleideten, Jingelingling-Mädel angetanzt, was zu Zickenzoff und Entscheidungsdruck auf der männlichen Seite der Story führt. Da so ein Clip aber nur max 3-5 Minuten dauert, hat Jüngelchen nur kurz Zeit, zwischen Hell und Dunkel abzuwägen. Dieser Prozess ist mit unendlich viel Singen und Klatschen verbunden, wobei Jüngelchen mutterseelenallein, meistens mit schmachtendem Singsang, eine einsame Straße entlang schleicht, auf der dann aus dem Nichts heraus, auf einmal 50 identisch gekleidete Typen hinter ihm stehen und wird rhythmisch zappeln. Nach vier Minuten ist klar, dass die Dunkle keine Schnitte hat und nur die Helle in Frage kommt. Ich finde gut, dass die klare Farbschematik als kleine intellektuelle Hilfe fungiert, um bei all dem wilden Singen und Klatschen nicht den inhaltlichen Überblick zu verlieren. Nun zu Plot Nummer zwei: Die Schöne wird von reichem, aber ästhetisch fragwürdig aussehendem älteren Mann, Modell Vic Dorn - für die Loriot-Liebhaber unter uns - zur Hochzeit gedrängt. Bei diesem Bedrängnis helfen übrigens die Eltern kräftig mit. Doch Schöne singt den armen, doch auch sehr schönen Schlucker herbei, was dann in einer sehr schön geschluchzten Schmonzette endet, bei der beide mit einer Royal Enfield fliehen. Um den flüchtigen Moment für den Zuschauer besser zu visualisieren, fallen Tonnen von bunten Blütenblättern auf die Motorradfluchtzeitlupeneinstellung. Gegen Ende dann die spirituelle Erlösung des Dramas, bei der der arme, aber schöne Schlucker, schluckaufmäßig ins Mikro röchelt und sich herausstellt, dass der schöne, arme Schlucker eigentlich ein unermesslich reicher Schnösel ist. Die Armutsnummer war nur ein Test, damit er sicher sein kann, dass Schöne nicht nur auf seine Knete aus war. Die Eltern sind versöhnt und der ästhetisch Fragwürdige wird mit verkniffenem Gesichtsausdruck in die Wüste geschickt. Auch hier tauchen in den seltsamsten Situationen 50 identisch gekleidete Kerle auf, die mit Schlucker zappeln, um die Tragik der Situation irgendwie rüber zu bringen. Mehr gibts inhaltlich eigentlich nicht auf diesem Musiksender. Spannend ist, dass der Chef des Babiersalons bei jedem Clip unauffällig leise mitsingt. Während ich das so meine Medienanalyse betreibe, wackelt einer der Barbiere mit dem Kopf und fordert mich auf, im Deliquentensessel Platz zu nehmen. Er legt sofort los! Kein, "wie hätten sie es denn gerne?" oder, "was machen wir denn heute?" - nichts! Er legt los. Versuche ihm kurz zu umreißen, wie ich es denn gerne hätte. Doch dazu wackelt er nur mit dem Kopf und mir geht auf, dass er kein Wort Englisch spricht. Na gut, dann einmal die Einheitsfrisur! Es geht richtig zur Sache, 15 Minuten Kopfmassage, die Haut wir heiß abgedampft, bevor er den Rasierer ansetzt und dann zieht er mir einen Scheitel. Hatte ich noch nie und wenn es nicht aussieht - hab meinen Bartschneider dabei, da kann ich Vollglatze machen! Eigentlich ist es zum Brüllen komisch, denn im Akkord werden hier immer Scheitelfrisuren gemacht, sehr professionell, doch es bleiben Scheitelfrisuren. Vielleicht wechseln sie ja alle halbe Jahr die Frisur und derzeit ist halt Scheitel dran. Ich lasse ihn einfach machen, meist habe ich ja eh den Helm auf oder meine Kappe gegen die Sonne. Aber es wird gut, am Ende wuschelt er nochmal den ganzen Kopfputz durch und ich muss 150 Rupien bezahlen, 1,67€! Was soll ich sagen. Super gelaufen und als ich den Laden verlasse höre ich Schlüppi im Babiersessel schnorcheln. Vielleicht ist er gar nicht für einen Haarschnitt da, sondern nur zum Schlafen, wer weiß das schon? Beim Babier von Delhi laufen die Uhren halt etwas anders und - schließlich ist Sonntag!



Heute ist übrigens der Tag ohne Fotos. Hatte mein Handy im Hotel liegen gelassen und somit gibts auch kein Selfi mit dem Barbier. Heute nachmittag sind wir dann im Swaminarayan Akshardham Tempel und da ist fotografieren strengstens untersagt. Aha, so so. Das ist eine Notmaßnahme, denn die indische Selfiseele hat die Spiritualität des Tempels so in den Hintergrund gedrängt, dass nun alles digitale Equipment verboten ist. (Daher sind alle Fotos des Tempels nicht von mir, sondern durch eine Suchanfrage der Googleplattform oder von https://akshardham.com entnommen) Mit der Gelben Linie der Metro fahren wir 11 Haltestellen - Dauer etwa eine halbe Stunde - wechseln in die Blaue Linie, um noch 6 weitere Stationen bis zum Tempel zu fahren. In Delhis Suburbs liegt die Metro oberirdisch auf einer Hochbahntrasse. Das ermöglicht einen guten Blick in die einzelnen Stadtviertel. Das ist schon ganz schön krass, was man da zu sehen bekommt. Von verdreckten Kanälen kann man gar nicht mehr sprechen, so vermüllt sind die Kanalläufe. Slums zwischen hochherschaftlichen Villen runden das Kontrastprogramm ab. Nun ja, Indien ist eben das Land der Kontraste. Nach fast drei Tagen hier, habe ich meinen europäischen Blick fast gänzlich ausgeschaltet, sonst kann man einfach nicht die schönen Dingen wahrnehmen, die es in ebenso großer Anzahl gibt, wie die - in unseren Augen - negativen Dinge.



Der Akshardham Tempel zeigt Jahrtausende traditioneller und moderner hinduistischer Kultur, Spiritualität und auch Architektur. Irgendwie hatte ich den Reiseführer so verstanden, dass nur im Innern das Filmen und Fotografieren verboten sei. Doch ich werde eines Besseren belehrt. Am Tor strömen Massen von Menschen Richtung Eingang. Heute ist schließlich Sonntag und da ist halb Delhi - zumindest gefühlt - auf dem Weg zum Akshardham Tempel. Erst muss ich durch das Flughafen-Ballett. Der geneigte Leser kennt dieses schlangenlinienähnliche Anstehen vor den Schaltern. Dann muss man alle seine digitalen Geräte, Rucksäcke und sonstigen Dinge abgeben. Einzig man selbst, immerhin ist Kleidung erlaubt (!) und Wasserflaschen gehen durch das intensive Radar der Sicherheitsüberprüfungen. Man wird fotografiert und auch nur derjenige, der die Habseligkeiten abgegeben hat, ist auch zur Abholung berechtigt. Dort wird man erneut fotografiert und modernste Software überprüft vollautomatisch die beiden Gesichter. Dann geht es durch die Sicherheitsschleuse, die krasser ist, als am Flughafen. Hier hätten sie mein Fliewatüt definitiv entdeckt! Nach knapp zwei Stunden sind wir dann im Tempel. Wirklich krass. Wenn man nix dabei hat und nur die nackten Klamotten am Leib hat, ist man fix drin, doch sobald man ein Smartphone, Smartwatch oder was auch immer an Bord hat, muss man durch diesen sicherheitstechnischen Spießrutenlauf.



Die Anlage ist riesig und zeigt die Quintessenz der indisch-spirituellen Handwerkskunst aus vergangenen Jahrhunderten. Der Tempel wurde 2005 in Anwesenheit von A. P. J. Abdul Kalam, dem ehemaligen Präsidenten Indiens offiziell eröffnet. Die ganze Anlage ist einem Kerl namens Swaminarayan gewidmet, auch bekannt als Sahajanand Swami - aber klar doch! Der Kollege war Yogi und Asket, der von seinen Anhängern als eine Manifestation Krishnas angesehen wird. Aha so so. Leider kann ich nicht die ganzen Infotafeln abfotografieren, weil mein Handy ja im Safe liegt und somit muss ich hier die spirituelle Fakten stark verkürzen. Ist eh nach drei Zeilen so unverständlich für mich, dass ich mich mehr auf die, wirklich wunderschön gearbeiteten Details der verschiedenen Bereiche konzentriere.



Die Hauptattraktion des Swaminarayan Akshardham-Komplexes ist der Akshardham Mandir (Mandir heißt Palast) . Es ist 43 Meter hoch, 96 Meterbreit und 109 Meter lang. Der Baukörper ist kunstvoll mit Flora, Fauna, Tänzern, Musikern und Gottheiten verziert. Der Akshardham Mandir besteht vollständig aus rosa Sandstein, den man aus Rajasthani rangekarrt hat und italienischem Carrara-Marmor. Basierend auf traditionellen hinduistischen Architekturrichtlinien zur maximalen Lebensdauer eines Tempels, hat man auf Eisenmetall verzichtet. Also keine Stütze aus Metall oder aus Beton, jawohl, sollte man mal erwähnen. Der Backs besteht außerdem aus 234 kunstvoll geschnitzten Säulen, neun Kuppeln und über 20.000 Murtis. So,

nu´ ist hier mal Allgemeinbildung gefragt: Murtis??? Im Hinduismus bezeichnet der Begriff Murti eine geweihte Statue, die als sichtbare Verkörperung einer Gottheit, eines Aspekts eines Gottes oder eines Gurus angesehen wird - so, da habt ihrs! An der Basis des Tempels befindet sich auch das sogenannte Gajendra-Pith, ein Sockel, der dem Elefanten für seine Bedeutung in der hinduistischen Kultur und der Geschichte Indiens Tribut zollt. Es enthält insgesamt 148 lebensgroße Elefanten mit einem Gesamtgewicht von 3.000 Tonnen. Wir zockeln einmal rum und die bildhauerische Leistung ist schon beeindruckend. Ich habe gelesen, dass man etwa 22.000 Tonnen Sandstein benötigte, um diese 148 Sandsteinellis zu dengeln. Ordentlich viel Gestein!



Unter der zentralen Kuppel des Tempels liegt die 3,4 Meter hohe Murti von Swaminarayan, die in Abhayamudra (Geste der Furchtlosigkeit) sitzt und dem der Tempel gewidmet ist. Swaminarayan ist von Bildern der verschiedenen Gurus seiner Lehre umgeben, die entweder in einer hingebungsvollen Haltung oder in einer dienenden Haltung dargestellt sind. Jedes Murti besteht gemäß der hinduistischen Tradition aus Pañcadhātu, was ein Begriff für traditionelle Legierungen aus fünf Metallen von heiliger Bedeutung ist, die zur Herstellung hinduistischer Tempelmurti und Schmuck verwendet werden.


Obwohl schon seit 1995 geplant und auch gebuddelt wurde, konnte erst 2001 der erste behauene Stein gelegt werden. Ein Team aus acht Gelehrten überwachte die Arbeiten auf dem Gebiet des Pancharatra Shastra, einer hinduistischen Schrift über Architektur und Gottheitsschnitzerei. Ebenso die Steinmetzarbeiten sowie die Erforschung von Schnitzereien zur indischen Handwerkskunst aus der Zeit zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert. Diese Forschung wurde außerdem an verschiedenen Orten wie Angkor Wat, Jodhpur, Jagannath Puri, Konark und den Tempeln von Bhubaneswar und anderen Tempeln in Südindien durchgeführt.



Wie der geneigte Leser merkt, um das Konzept des Tempels in Gänze zu verstehen, müsste man sich für ein paar Jahre in einen Ashram zurückziehen und ein intensives Studium des Hinduismus angehen. Daher verzichte ich auf tiefergehende Fakten. Die Anlage ist beeindruckend, sehr schön, mal anmutig, aber manchmal auch richtig martialisch. Wir sind beeindruckt und auch ein bißchen erschlagen, als wir wieder heimkommen. Morgen gilt es die Bergziege frei zu bekommen, denn ich spüre den Ruf der Straße . . . Bonne nuit folks!


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