11. Mai 2024 - Kathmandu
KM 22.108
Morgen ziehen wir um. Nachdem die Bergziege nun auf dem Weg ist, verlassen wir morgen Thamel und damit den eigentlichen Stadtkern von Kathmandu. Neues Ziel ist Patan, was zu Lalitpur gehört. Früher war es mal die Nachbarstadt, doch wie bereits erwähnt, ist das hier städtisch alles ein fließendes Konzept. Noch einmal Sightseeing in Kathmandu. Deshalb machen wir uns zur „Freak Street“ auf. Die heißt wirklich so, kein Witz. Also wandern wir zum großen Basar, über die Kupferstraße, die früher einmal das unmittelbare Zentrum der Handelsrouten zwischen China, Tibet und Indien gewesen ist. Heute ist es wieder etwas sonnig, doch wir haben bereits in den vergangenen Tagen die ersten Regenzeitvorboten gehabt. Die Gewitter und Regengüsse treten zwar erst gegen Abend und in der Nacht auf, doch sie haben den Vorteil, dass sie die Luft reinigen.
Gerade ist wieder der Strom und das Internet ausgefallen, damit ist fraglich, ob ich heute überhaupt etwas hochladen kann - habe tatsächlich nirgendwo anders auf der Welt, derartig viele Stromausfälle erlebt, wie hier in Nepal und besonders in Kathmandu. Wenn man sich jedoch die Kabelknoten hier in den Seitenstraßen anschaut, dann wundert mich nix.
In den kommenden Tagen klart es jedoch wieder auf und die Hitze kommt zurück. Doch, wie soll ich es sagen, die Luftverschmutzung in Kathmandu ist wirklich krass. Gestern sind wir so lustwandelnderweise durch die Gassen geschlendert, waren noch einmal bei einer kleinen Stupa, die der Swayambhu Stupa zum Verwechseln ähnlich sieht. Irgendwie gehören die auch zusammen, denn das Baumaterial und der Erdaushub, der beim Bau der Swayambhu Stupa übrig blieb, hat man genutzt, um hier ein kleines Abbild der großen Schwester zu schaffen. Die kleine Khatesimbhu Stupa, so heißt der beäugte, weiße Zachel, steht abseits inmitten der verwinkelten Gassen von Thamel. Umgeben von Wohnhäusern, einem tibetischen Kloster, ein paar Cafés und natürlich den obligatorischen Shops, die von den Gebetsfahnen bis zur Bhairava Maske, alles in der Auslage haben. Doch der Platz erinnert mit seiner menschlichen Lebendigkeit sehr an mediterrane Städte, wo das allgemeine Leben eben draußen stattfindet. Da sitzen ältere Männer und Frauen, klönen oder spielen, Straßenkinder toben zwischen den
Nebenschreinen umher oder spielen Verstecken, Gläubige schauen kurz vorbei, umrunden die Stupa und drehen an jeglicher Gebetsmühle, die auf dem Platz zu finden ist. Alles in allem eine schöne, beschauliche und auch harmonische Atmosphäre. Doch zurück zur Luftqualität Kathmandus. Gelesen haben wir viel darüber und seit ein paar Tagen benutzen wir ja auch wieder OP-Masken. Doch gestern hatte ich meine Maske vergessen und als ich mir abends das Gesicht wusch, hab ich mich doch sehr erschrocken. Für gewöhnlich bin ich ja bekanntermaßen nicht so ein Anhänger römisch-katholischer Reliquien und das Grabtuch von Turin hat für mich ja auch eher einen zweifelhaften Charme. Aber, als ich dann mein Handtuch wieder aufgehängt habe, konnte ich nicht glauben, dass der Staub, Abgas- und Straßendreck, tatsächlich mein Antlitz wiedergibt. Aha, so so. Was soll ich sagen - das Straßentuch von Kathmandu. Heute habe ich wieder eine Maske dabei!
Die Freak Street von Kathmandu beginnt südlich des Durbar-Squares. Eigentlich heißt die Freak Street, Jhochhen Tole, wird aber im Volksmund älterer Einwohner von Kathmandu immer noch als „Old Freak Street“ oder „Freak Street“ bezeichnet. Eigentlich wird der Name nicht nur für die Jhochhen Tole benutzt, sondern synonym für ein kleines Viertel, das sich südlich an den Durbar Square anschließt. Die „Freak Street“ war von Anfang der 1960er bis Ende der 1970er Jahre, Magnet für eine junge, unruhige Generation, die sich von politischer und sozialer Frustration distanzieren wollte und so auf den Weg machte, Erleuchtung zu finden. Jawohl. Erleuchtung gab es im Kathmandu dieser Zeit auf recht unterschiedliche Weise. Klosterleben, Meditation und natürlich lockten damals, die von der Regierung Nepals betriebenen
Haschischläden. Bunt gekleidete Hippies, aus den verschiedensten Teilen der Welt, pilgerten auf der Suche nach legalem Kick zur „Freak Street“. Damals muss hier ordentlich was los gewesen sein, auf den Straßen von Kathmandu. Ich finde ja, dass es immer noch ziemlich abgeht auf den Straßen, aber vermutlich war damaliges „Abgehen“ und heutiges „Abgehen“, zweierlei Paar Schuhe. Ich habe gelesen, dass es sogar direkte Bussverbindungen gab, die das erleuchtungssüchtige, langhaarige Bleichgesicht, in seinen blumigen Schlagjeans am Flughafen oder auch an den indischen Grenzstationen (!) einsammelte und sie zur „Freak Street“ karrte. Service, kann man nicht anders sagen! Die Jhochhen Tole und das umliegende Viertel entwickelte sich zu einen Hippie-Nirvana, da Marihuana und Haschisch legal waren und in staatlich lizenzierten Geschäften verkauft wurden. Was soll man sagen? Heute würde man sagen Backpackers Paradise. In einigen Stadtvierteln von Chiang Mai scheint man dabei zu sein, ein solches Lebensgefühl etablieren zu wollen, denn wenn man durch die Gassen der Backpacker-Hostels streift, kann einem der durchdringende Geruch von Mary-Jane schon mal
Lungenbeschwerden bescheren. Doch davon ist man in Kathmandu inzwischen weit entfernt. Zwar laufen immer noch etliche Haschdealer durch Thamel und wolle leise flüsternd, Gras und Speed an den Mann oder die Frau bringen, doch im Großen und Ganzen, ist von der Legende „Freak Street“ nichts mehr übrig, als ein wehmütiger Hauch, der in die Gassen weht, vorbei an einschlägigen Souvenirlädchen, die alter Zeiten eingedenk, lumpig daherkommende
Hippieklamotten feil bieten. Es sind keine richtigen Hippie-Klamotten, das Design ist mehr so, wie man sich vorstellt, wie ein Hippie wohl ausgesehen haben könnte. Hauptsächlich wild bunt gemustert und etwas schmuddelig abgewrackt. Die Geschichte der „Freak Street“ endet, wie diese Geschichten immer enden müssen. Aus einer erzählten Geschichte wird ein Geheimtipp, dann eine Modeerscheinung, dann kommen die Massen, die sich dem Gastland gegenüber respektlos verhalten. Irgendwann wurde aus der, anfänglich kleinen und nur wenig auffälligen, Community, ein westlicher Exodus und das rief natürlich die Behörden auf den Plan. In den frühen
1970er Jahren startete die nepalesische Regierung Razzien gegen die Erleuchteten in der „Freak Street" und „deportierte“ sie nach Indien. Ob diese Aktion tatsächlich auf Druck der USA geschah, kann ich nicht beurteilen, wird aber immer wieder geflüstert. Ich weiß es nicht. Doch die nepalesische Regierung erließ strenge Vorschriften für Touristen, im Hinblick Kleiderordnung und äußerem Erscheinungsbild. Wenn ich die kaum bekleideten Instagirls hier so auf dem Durbar Square sehe, wird eine ähnliche Anordnung wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen. Die Hippie-Bewegung Nepals starb damit am Ende der 1970er Jahre aus. Die Produktion und der Verkauf von Haschisch und Marihuana wurde von der Regierung verboten, dennoch konnte man aber den Hippie-Tourismus relativ schnell durch Trekking- und Kulturtourismus ersetzen. Heute
lebt die Jhochhen Tole nur noch von diesem Mythos. Es gibt zahlreiche Cafés, herunter gekommene Backpacker Hotels, aufgehübschte, teure Restaurants und Hippieklamotten, die selbst bei uns für einen mittelalterlichen Weihnachtsmarkt zu abgewrackt wären. Doch
Kathmandu, besonders Thamel, ist voller Touristen aller Altersklassen und manch einer der Oldtimer steht versonnen vor der bunten Flickschusterei und scheint angestrengt zu lauschen, was die Sonnenblumen auf den bunten Leinenhemden ihm zuflüstern. Interessant ist jedoch, dass man hier in Kathmandu hervorragendes Backwerk bekommt. Gedeckte Obstkuchen, süddeutsche Sahnetorten, französische Croissants, und, und, und . . . Hier gibt es mehr Bäckereien und auch Konditoreien, als wir es in den vergangenen Monaten irgendwo gesehen hätten. Bekanntermaßen ist ein Erbe der Hippiezeit, der kathmanduer Apfelstrudel. Wir haben ihn noch nicht probiert, doch das französische Croissant, was ich gestern in einer Konditorei - also, so richtig mit Kühlvitrine, Sahne und sonstigen Kalorien - erworben habe, war großartig und muss sich nicht vor seinem französischem Pendant, aus einer Patisserie auf dem Boulevard Haussmann verstecken.
Wir verlassen den historisch verlassenen Ort wilder Legenden und gehen zurück zum Durbar Square, wo wir das Kumari Chowk passieren. Das ist ein großer Gebäudekomplex, der an den südlichen Rand des Durbar Squares grenzt. Darin haust die Kumari oder Kumari Devi! Aha, so so. Die normal Sterblichen dürfen nicht darein, wir Bleichgesichter ohnehin nicht. Dazu hatte ich eigentlich noch nix erzählt. Es ist auch, zumindest für unsere rationale Seele, so skurril, dass wir manchmal nur den Kopf schütteln. Doch ein Land, das so leidenschaftlich in spirituellen Tiefen watet, wie Nepal, wird sich von derartigen Traditionen auch zukünftig nur schwer lösen. Irgendwie ist die Story ziemlich schräg, doch ich versuche es mal. Kumari oder Kumari Devi ist eine „lebende Göttin“. So glaubt man hier - zumindest offiziell! Hier in Nepal ist eine Kumari ein vorpubertäres Mädchen, das aus dem Shakya-Clan der nepalesischen Newari, der buddhistischen Gemeinschaft ausgewählt wurde.
Dabei geht es um die Tradition der Verehrung einer auserwählten Jungfrau als Manifestation der göttlichen weiblichen Energie oder Shakti in den dharmischen nepalesischen Religionstraditionen. Aha, so so, wenn ich das richtig verstanden habe, dann schnackeln dabei alle meine Chakren, denn es wird angenommen, dass das Mädchen von der Göttin Taleju besessen ist. Besessen? Göttin? Taleju? Hmmm. Hab zwar keine genaue Vorstellung, was das zu bedeuten hat, doch alle Nepalis, besonders die älteren Vertreter, bekommen bei dem Wort Kumari einen glasigen Blick. Ein bißchen so, wie die Buddhisten, wenn man ein Bild vom Dalai Lama vorlegen kann. Vor dem Kumari Chowk werden übrigens Bilder der derzeitigen Kumari feil geboten, was in unseren Augen sehr seltsam anmutet, bei den Nepalesen und besonders
den Newari, aber wie eine Autogrammkarte von Bruce Springsteen gehandelt wird. Während es in ganz Nepal mehrere Kumaris und in einigen Städten sogar mehrere Kumari-Mädels gibt, ist die Royal Kumari von Kathmandu die populärste Kumari. Sie lebt eben im Kumari Ghar, dem Gebäudekomplex hier am Durbar-Square. Natürlich muss das Kind immer ausgewechselt werden, denn wenn sie anfängt zu menstruieren, ist die spirituelle Reinheit dahin und eine neue Kumari muss her. Der Auswahlprozess für Kumaris ist besonders streng. Die Jobbeschreibung für das junge Ding, das übrigens nur im Palast selbst laufen darf und außerhalb immer getragen wird, ist nicht ganz einfach zu kapieren. Wie gesagt, derlei Gedankenkonstrukte, sind uns einfach fern. Also, die Verehrung der Göttin Taleju durch ein junges Mädchen, stellt die Verehrung des göttlichen Bewusstseins dar. Aha, so so. Im Großen und Ganzen läuft es darauf hinaus, dass für die Newari die Verehrung einer Gottheit, die durch einen Menschen
symbolisiert wird, eine höhere, reinere und auch tiefgehendere Form der Verehrung darstellt. Im Gegensatz dazu wird die göttliche Verehrung in Form eines Idols, also eines Bildnisses, als weniger wahrhaftig angenommen. Deshalb wird immer ein kleines Mädchen gesucht, das, bis zur ersten Regelblutung, als göttliche Stellvertreterin fungiert. Puhh, sehr harter Tobak, wie finde ich, besonders, da die armen Mädels, wenn sie den Palast verlassen, erst einmal wieder richtig laufen lernen müssen. Doch Kumaris sind religiöse Rockstars in Nepal, auch, wenn diese Tradition in unseren Augen sehr skurril anmutet. Es gibt noch die schöne Legende, dass ehemalige Kumaris später Schwierigkeiten haben einen Mann zu finden, denn die sterben immer auf mysteriöse Weise. Aber, das scheint nur eine hiesige Gute-Nacht-Geschichte zu sein, denn die letzten Kumaris sind alle verheiratet und die diversen Gatten erfreuen sich allerbester Gesundheit. Fragen über Fragen des Orients.
So nun müssen wir zurück nach Tahiti. Jau, der geneigte Leser hat recht gehört, nach Tahiti. Für die Orientierung im unendlichen Gassengewühl Kathmandus, sucht man sich am Besten einen kleinen Schrein als Fixpunkt, der nahe genug am Hotel liegt, sodass man seinen Weg zur heimischen Futterkrippe immer wieder finden kann - auch aus dem tiefsten Gassengewimmel heraus. Unser lokaler Fixpunkt heißt Tahiti. Das ist ein Platz, keine zwei Straßen von unserem Hotel entfernt, auf dem mehrere Schreine stehen und auch eine tibetische Stupa, die eben Tahiti heißt. Eigentlich ist an dieser Stupa nichts so richtig außergewöhnlich, außer in der kurzen Dämmerung, wenn die umlaufende blaue LED-Beleuchtung aufflammt und den einladenden Charme eine Tiki-Bar ausstrahlt. Tahiti eben. Bonne nuit folks!
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