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AutorenbildIngo

Briefe an mich selbst . . .

01. August 2024, Münster

KM 22.108


Seit einigen Tagen, wächst der Druck auf mich, also richtiggehend Leistungsdruck, kann man nicht mehr anders nennen. Nach anfänglichen, durchaus noch dezenten Nachfragen, wie unseren Geschichten denn wohl weitergehen, wird der Ton inzwischen hartnäckiger. So im Sinne von, man habe ja doch irgendwie eine Pflicht weiterhin den Blog zu füllen. Regelrecht scheint sich da der ein oder andere Leser sehr an einen abendlichen Gutenachtpost gewöhnt zu haben . . .  Ach was sage ich da, verspüre bei einigen Followern nahezu mentale Abhängigkeiten von unseren Abend- und Abenteuergeschichten. In den vergangenen Wochen musste ich erst einmal selbst lesen, was ich da so alles geschrieben habe. Das dabei fast 300 Depeschen herausgekommen sind, war mir gar nicht so bewußt.

Fast alle haben gefragt, woher ich die Zeit und Muße gefunden habe, auf dieser Reise soviel Geschreibsel zu produzieren. Tja, wie erkläre ich es. Faktisch hatten wir viel Zeit, allein, dadurch dass wir ja immer in irgendeinem Hotel genächtigt haben, fiel jegliche Haushalts-, Einkauf- und auch Kochzeit weg. Dadurch gewinnt man schon mal die ein oder andere Stunde am Tag. Doch vielmehr Motivation ist eigentlich die Angst vor dem Vergessen gewesen. Jeden Tag, 24 Stunden lang, gab es aufs neue Eindrücke, Erlebnisse und Abenteuer, die in ihrer „Schlagzahl“ schon mal schnell die Festplatte vom „Vortag“ überschrieben haben. Diese Reise ist ja doch soviel mehr, als nur einen Pin in die jeweilige Landkarte zu stecken, fertig, auf zum nächsten Picture Point. Dieses Jahr war uns eine Herzensangelegenheit und ein lang gehegter Jugendtraum meinerseits. Wir wollten soviel wie möglich von Asien aufsaugen, die Veränderung in den Gesichtern der Menschen, ihr Lachen, ihre Geschichten, sei sie „groß“ im Spannungsfeld zwischen Damals und Heute oder sei sie auch nur „klein“ zwischen den Zeilen des Lebens. Die Depeschen ermöglichen es mir, die verschiedenen Farben, Gerüche und Begebenheiten hervorzulocken und mich im hektischen Alltag für Momente „fortzuschleichen“ zu können, zu den Wasserfällen von Jojo-Gun auf Java, zu türkisen Korallenriffen auf Sumatra, zu 800000 Tassen Tee in den malayischen Cameron Highlands, den goldenen Tempeln in Thailands Königsstätten, dem Land der Zuckerpalmen und den 4000 Inseln der Mekongfälle, den eierförmigen Kalkfelsen von Vang Vieng, den tigerlosen Tigersafaris in Ranthambores - zugegeben - grandiosertigerfreien Landschaft und bis hin zu den schneebedeckten 8000ern des Großen Himalayas. Diese Depeschen sind sozusagen meine „Farbsammlung“, so Frederik-die-Maus-mäßig. Wenn man mich zukünftig in einem Meeting wortkarg, ja nahezu geistig abwesend empfindet, mag das daran liegen, dass ich mental gerade am Rand einer der tiefsten Schluchten der Erdgeschichte stehe, zwischen Annapurna 1 und Dawlagiri, und fasziniert das türkise Gletscherwasser des Kali Gandakhi bestaune, welches sich in der Tiefe über rauem Felsgestein bricht und ein Rauschen in meinen Ohren erzeugt. Für viele Eindrücke benötigen wir zur Erinnerung bestimmt keine Depeschen, haben sie doch einen tiefen Zugang zu unserem Herz und unserer Seele gefunden. Doch in Anbetracht eines jeden Alltags, verlieren sich schon mal die Spuren der Kleinigkeiten, die unsere Reise ebenso wertvoll gemacht haben, wie die großen unvergesslichen Momente. So hilft mir das Lesen unserer Depeschen, mich zu erinnern. Doch andererseits ist das Lesen meiner Texte, ehrlich gesagt, je nach Tagesform, seltsam bis fremd. Vielfach muss ich schmunzeln, wenn das Geschreibsel meiner Erinnerungen ein wenig Starthilfe gibt und häufig durchzuckt mich der Gedanke, „Ach ja, dass ist ja auch noch passiert!“ Manchmal sind mir meine eigenen Schilderungen aber auch so fremd und ebenso abstrakt, dass ich mich unwirkürlich selbst frage, „Mein Gott, was haben die beiden Verrückten da eigentlich alles erlebt?“ Ein bißchen so, als hätte ich mir selbst Briefe geschrieben, die von Fremden handeln . . .

    Nun, da sind wir also wieder. Seit ein paar Wochen geht alles scheinbar seinen gewohnten Gang und doch sind da etliche Dinge, die mich, uns, sehr verändert haben . . . Zunächst einmal sind wir wieder komplett. Vor gut zwei Wochen ist die Bergziege ebenfalls in ihrer Heimat angekommen. Eines Morgens, Anfang August, klingelt es an der Tür und das seltsam vertraute und trotzdem auch unvertraute große Paket aus Kathmandu steht wieder vor unserer Garage. Die leichten Holzwände transportbedingt vernarbt, wie tiefe Lebensfurchen eines weisen tibetischen Mönchs, der in einem abgeschiedenen Bergkloster haust. Über und über mit Transportaufkleber beklebt, teilweise übereinander, einige abgerissen und nur unzureichend entfernt. Fast alle Seiten haben außerdem irgendeinen fettschwarzen Anschrieb, in den seltsam anmutenden Hindischriftzeichen und verleihen der Transportkiste den rauen, weit gereisten Charme eines alten Schrankkoffers, dessen sprödes Leder von zahllosen, verblichenen

Hotelaufklebern der Coté Azur oder dem hinteren Orient bedeckt ist. Der geneigte Leser erinnert sich, dass man am Cargo Terminal von Kathmandu lediglich eine Hubameise sein Eigen nennt und man daher das Kistenunterteil konstruktionstechnisch nicht für so moderne Hilfsmittel, wie bspw. einen Gabelstapler, vorbereitet hat. Schließlich kann man ja eben 10 beliebe Arbeitskräfte herbeizitieren, die ein massiges Abenteuermotorrad, samt hölzerner Verpackung auf die dunkle Ladefläche eines indischen Tata-LKWs hieven, der eher an einen, vom täglichen Nahkampf auf indischen Straßen verunstalteten Metallkadaver erinnert. Da man aber im Hamburger Hafen eher 10 Gabelstapler vorfindet, denn 10 beliebige humane Arbeitskräfte, wurde kurzer Hand beim teutonischen Zoll eine Europalette mittig unter die Kiste geflanscht und mit breiten Metallbändern verspannt. Die beiden Herren der Spedition wuchten wortlos den hölzernen Sarkophag unserer heimgekehrten Bergziege vor das Garagentor, tippen sich an die Stirn, das Trinkgeld verschwindet dankend im Latz der berufsgenossenschaftlich korrekten Arbeitsbuxe und rauschen, ebenfalls wortlos, von dannen. So stehen Anni und ich in

der frühmittäglichen Hitze des Augusttages und bestaunen den Heimkehrer. Eine wackelige Angelegenheit, sobald wir versuchen die Kiste zu öffnen. Nach dem Entfernen der Metallbänder fixiert lediglich das Gewicht der Bergziege die Kiste auf der Palette. Außerdem ist die Fläche vor meiner Garage leicht abschüssig, so regenwasserablauftechnisch. Mühsam öffnen wir den Deckel und schauen in die diffuse Dunkelheit der Grotte, wie Howard Carter, als er Tut Anch Amuns Grab öffnete. Die Bergziege liegt verkantet fast diagonal in der Kiste, die Koffer sind aus ihrer Verankerung gerissen und nahezu lose in der Box. Vorsichtig, mit der inneren Ruhe eines Archäologen, öffnen wir die Seitenteile und stellen fest, dass die Schlagseite der Bergziege daher rührt, das die vordere Gabel aus der Verankerung „gesprungen“ ist. Es gibt etliche Berichte von Motorradreisenden, die mit indischen Transportgepflogenheiten gleiche Erfahrungen gemacht haben. Irgendwie stehen wir staunend vor der „schrägliegenden“ Bergziege und im Stillen frage ich mich tatsächlich, wie ein 270 Kilogramm schweres Motorrad, über eine 5cm hohe Holzführung rutschen kann, fest verspannt wohl bemerkt. Im hintersten Winkel meines Gehirns ertönt leise Billy Bones träger Gesang „15 Mann auf des Toten Manns Kiste, joho und Buddel voll Rum . . .“ Vielleicht hat die Bergziege aber auch nur Schlagseite, weil

sie an der Buddel Rum genippt hat, wer weiß das schon. Fragend stehen wir vor der Maschine und insgeheim frage ich mich, wie wir zu zweit die Ziege aus der wackeligen Bodenkonstruktion bekommen sollen. Zum Besseren Verständnis: Um die Bergziege überhaupt zu bewegen, muss das Vorderrad wieder rein, was aber nur möglich ist, wenn zwei kräftige Muskelmänner sie vorn hochwuchten. Außerdem steht sie ja auf einem Holzrahmen, also mit Schlagseite, der wiederum lose auf einer Europalette aufliegt. Aber Rettung naht. In Form von drei Landschaftsgärtnern, unterwegs im Namen meines Vermieters. Sie können sich meiner Charmoffensive nicht entziehen und stimmen zu, „eben“ mit anzufassen. Am Ende sind all unsere Tshirts

durchgeschwitzt, denn die 270 Kilogramm von seinem wackeligen Sockel zu wuchten, gestaltet sich schwieriger, als gedacht. Doch die Jungs sind klasse, packen klaglos zu und reagieren mit gleichmütigem Humor auf die unverhoffte Verschiebung ihres Feierabends, ebenso wie auf die unverhofft großzügige Einzahlung unsererseits in ihren Freizeit-Reptilienfont. Am Ende des Tages ist alles nahezu wieder zusammengebaut und ich kann am folgenden Tag den Straßenstaub, Teer und die asiatischen Abgasrückstände runterwaschen, bevor sie zur Inspektion abgeholt wird. Was soll ich sagen, schließlich geht man ja auch nicht ungeduscht zum Arzt.

    Ausnahmslos alle wollen wissen, wie es uns „jetzt“ geht, wie das Ankommen war, zurück in eine Normalität. Da wir ja beide noch etwa zweieinhalb Monate Luft haben, bleibt viel Zeit den Geist „umzustellen“. Die Frage, warum wir nicht bis zum letzten Tag fort waren, ist schwer zu beantworten. Die Dichte der Erlebniss führt irgendwann zu einer mentalen Sättigung, von der, zumindest mein Kopf, sich erholen muss, sprich - alles Erlebte soll ja irgendwie verarbeitet werden. Wie auch immer diese Verarbeitung aussehen wird, vermag ich gar nicht zu sagen, doch aus der Rückschau vieler unserer Reisen ist klar, dass mein Kopf da schon einen Weg finden wird. Diese Zeit, wieder zurück in „unserer“ Welt, ist tatsächlich sehr gut gewesen, allein schon, um wieder einen, nennen wir es mal vorsichtig - einen heimischen Rhythmus zu bekommen. Wie der aussieht, kann ich gar nicht klar definieren, da ich momentan noch nicht weiß, was mein Unterbewusstsein mit all den Reiseabenteuern anfangen möchte. Zunächst einmal ist da eine ganz große Dankbarkeit. Wir sind unendlich dankbar, dass unsere Reise so glücklich verlaufen ist. Wirklich! Wir werden immer wieder gefragt, ob die Reise ein „Erfolg“ gewesen sei. Was soll ich sagen, hinsichtlich dieser ökonomisch angehauchten Frage??? Wie ja bereits häufiger erwähnt, Vom Dschungel auf das Dach der Welt und dabei hatten wir keinen Unfall, keine Krankheiten, nicht ausgeraubt worden, keine motorradtechnische Panne und wir reden auch noch miteinander. Besser kann es eigentlich nicht laufen. Also, eigentlich können wir jetzt wieder los . . .


    

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