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AutorenbildIngo

Götterdämmerung . . .

16. November 2023 - Angkor Wat.

KM 14367


Unter dem Begriff Völkerwanderung, versteht man ja eigentlich, die Migration vorwiegend (germanischer) Gruppen in Mittel- und Südeuropa, im Zeitraum vom Einmarsch der Hunnen in Europa um 375/376 bis zum Einfall der Langobarden in Italien, im Jahr 568. Hab ich mal in irgendeinem Was-ist-Was-Buch gelesen. So weit so gut. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob ich heute morgen, in den verschlafenen frühen Morgenstunden, nicht Zeitzeuge eines solchen Migrationsphänomens oder einfach einer Dschungelprüfung geworden bin . . .



    Der Wecker reißt mich unsanft von meinem fliegenden Teppich und ich werde in die dunkle Realität katapultiert. 04:30 Uhr! So früh sind wir in den vergangenen Monaten eigentlich nur zur Safari in Khao Yai aufgestanden. Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, sich, in der schwülwarme Morgenluft der Tropen, vor einen alten Steinhaufen zu setzen? Vermutlich ich selbst, lautet die bittere Erkenntnis. Also raus aus den Federn, in die bereitgelegten Dschungelklamotten springen, den Rucksack mit der Fotoausrüstung greifen - ist Gott sei Dank schon gepackt - und wir wanken runter zur schlafenden Bergziege. Im Hotel brennt überall die flammende Neonbeleuchtung und erzeugt stechenden Schmerz hinter meiner Netzhaut. Der Nightmanager ist elendig gut gelaunt, reißt die exorbitante Flügeltür des Memoire d´Angkor Hotels auf und trällert melodisch "Guuud Mo´ning, enjoiii juu´ trip!" Wer ist hier auf dem Trip, fragt sich, irgendwo in meinem Hinterkopf, eine schneidende, leicht gereizte Stimme. Es ist stockfinster, logisch, 05:05 Uhr, was auch sonst. Man möchte ja meinen, dass wir allein in der Stille der Hauptstraße stehen, an der unser Hotel liegt. Auf der Straße findet jedoch schon ein Wagenrennen statt. Wirklich, Ben Hur wäre neidisch! Meine verschlafenen, blutunterlaufenden Morgenglubscher nehmen schemenhaft eine schier unendliche Schlange kleiner Mopeds wahr, die alle eine kleine, meist bunt lackierte und mit ein bis zwei westlich anmutenden Menschen angefüllte, Rickscha ziehen. Und zwar Stoßstange an Stoßstange. Mit Getöse! Kann mein Kopf alles noch nicht so richtig prozessieren. Bewege minimalst den Lenker der Bergziege und sofort kreischt die Alarmanlage los, sodass ich hektisch versuche den sichernden Metallklotz aufzuschließen, bevor der Dauerton die restlichen Gäste ebenfalls mitreißt - in unser morgendliches Abenteuer. Wir haben eine romantische Verabredung mit dem Sonnenaufgang in Angkor Wat!



    Mit dumpfen Grollen erwacht die Bergziege und ein Zittern geht durch den Motorblock, als wir uns in die Schlange der Streitwagen einreihen. Die lässige Hand- und Fußhaltung der Wagenlenker, auf Gasgriff und Fußraste, künden davon, dass das Startsignal noch nicht gegeben wurde. Das Signal steht noch auf Rot, an der Startlinie herrscht dichtes Gedränge, es ist ein interdisziplinäres Rennen, soviel ist mal klar. Alle sind angetreten. Es kommt zu Rangeleien, denn schmalere Rennpferde schlängeln sich geschickt zwischen den Streitwagen hindurch, um eine Poleposition an der Startlinie zu ergattern. Die Teams in den Wagen starren mich mit ebenso müden, blutunterlaufenden Augen an. Der ein oder andere Beifahrer scheint zu schlafen. Doch ich denke, es ist nur die Konzentration vor dem Umspringen des Signals. Nervosität macht sich breit. Hier und da knirscht ein Rad an der Verkleidung eines Wagens. Unmittelbar vor uns steht Nr. 9 - "Khmercowboy" ist weithin sichtbar auf sein Heck gesprüht. Er scheint ein Profi zu sein, kaltes Blut, das sieht man gleich. Er verharrt unbeweglich auf dem schmalen Sattel seiner 25ccm Turbine, während neben ihm der streitlustige Wagenlenker mit Nr. 51 - "Apsara



Dreamz" immer leicht provozierend am Gashahn zieht und den satten Sound von 3,3 PS aufheulen lässt. Hinter uns wummert ein schwarzes Geschoß, der Rennfahrer ist gekleidet wie Ivanhoe der schwarze Ritter, wobei auch sein Helmvisier tiefschwarz ist. Bin mir nicht mehr ganz sicher, ob damit die Markierungen der Rennstrecke noch zu sehen sind. Aber, nun gut, er scheint hier öfter am Rennen teilzunehmen. Neben uns fummelt sich ein westlicher Teilnehmer zwischen den Wagen hindurch und versucht sich elegant in Position zu bringen. Sie scheinen Zeitstress gehabt zu haben, da ihre beiden übergroßen Fahrradhelme fast bis ins Genick gerutscht sind. Auch gefällt mir der gebatikte Rennanzug, der hinten sitzenden Teamkollegin des Fahrers. Startpunkt der Rennfahrer ist die Kreuzung Jayavarman der VII. und Charles de Gaulles. Ein Meer von Flakscheinwerfern leuchtet in die Tiefe der Dunkelheit, in der sich die Streckenmarkierungen verlieren. Dann springt das Signal auf grün, es geht los - möge der Bessere gewinnen!



Die Meute hetzt den Wolf, Khmercowboy hat sich an die Spitze gesetzt und treibt seine Streitrikscha zu Höchstleistungen an. Dunkle Wolken hüllen die Bergziege ein, die ihre Kraft nicht richtig an den Boden bekommt. Kleine, aber flinke Eselchen reiten mühelos an ihr vorbei und verschwinden im geschickten Zickzackkurs aus unserem Scheinwerferkegel. Eine Kreuzung weiter, scheiden etliche Teilnehmer aus, denn die Rennstrecke geht über die alte Zufahrtsstraße. Nur hier sitzt um diese Zeit eine Rennaufsicht und kontrolliert die Teilnehmerausweise der internationalen Teilnehmer. Die meisten Streitwagen müssen hier auch raus, so gibt es wieder ein lebensbedrohliches Gedränge, denn es zählt nur eins, schnell ankommen. Wer zu spät kommt, muss hinter den chinesischen Teams klarkommen, die das Rennen meist in übergroßen Bussen bestreiten. Anni ist vorbereitet, die Ticketkontrolle wird in Sekunden erledigt und das Aneinanderrassel zweier Streitwagen nutzt die Bergziege gekonnt und schlängelt sich an die vorderste Linie, brüllt wütend auf und weckt so die schlummernden 120 Pferde. Die alte Rennstrecke ist kurvig, eng und beidseitig stehen massive Bäume, die Schlaglicht der vorbeirasenden Gespanne nur eben silbrig aufblitzen. Hier ist alles erlaubt, frühzeitzig ankommen, das zählt! Die einzige Lorbeere ist der beste Sitzplatz zum Sonnenaufgang, weitab von den größeren Teams aus dem nördlichen Asien. Khmercowboy kennt die Strecke hervorragend, er kämpft sich heran, dicht gefolgt von Apsara-Dreamz. Mittig, kurz vor dem Wechsel der Disziplin, ist eine Sonderprüfung eingebaut. Erste Dschungelprüfung sozusagen, denn hier gibt es auch keine Streckenbeleuchtung mehr. Eine geschotterte, ziemlich unebene Offroadeinlage mit einem bosnischen Motorrad als Gegenverkehr. Hats in sich. Für den geneigten Leser, ein bosnisches Motorrad bezeichnet einen im Dunkeln, verkehrsteilnehmenden PKW, bei dem ein Frontscheinwerfer defekt ist und man



glaubt, ein Motorrad wäre auf der Gegenfahrbahn. Khmercowboy und Apsara-Dreamz müssen offroadtechnisch in die Vollbremsung gehen, um nicht das hinten sitzende Team zu verlieren. Die Bergziege hat die Federungen hochgepumt, so dass sie ausweichend und geschmeidigst über die Schottereinlage fliegt. Nächste Dschungelprüfung ist kurz vor dem Ziel. Von rechts mündet Rennstrecke zwei auf die Zielgerade. Haufenweise Alternativrennfahrer aus der Pickupklasse, stoßen von links dazu. Im Rückspiegel blendet mich ein Heer von Flakscheinwerfern. Noch eine Linkskurve, dann Disziplinwechsel. Uhrenvergleich: 05:41 Uhr! Morgendämmerung 05:51 Uhr, Sonnenaufgang um 06:19Uhr. Ranhalten. Unsee ausgekuckter Boxenstopp für die Bergziege ist tatsächlich frei, anbinden und es geht zu Fuss weiter. Der Zuweg zu Angkor Wat ist verstopft - menschenbedingter Stau. Einige Rickschafahrer schummeln, ganz klar und lassen ihre Teams frühzeitig abspringen. Es wird eng, eine wogende Masse. Eigentlich sollte es angenehme 24 Grad und erfrischende Kühle geben, soviel zum Wetterbericht aus Cubertino. Verdichtung, nicht mehr 8 Personen nebeneinander, jetzt 12. Batikrennanzüge haben Saison, besonders mit Elefanten drauf. Zeit wird knapp, denn tief im Osten, kündigt sich ein Hauch der Morgenröte an. Wir sind an der Brücke, erneute



Streckenposten wollen die Karten sehen. Die wogende Masse kommt ins Stocken. Wenn die Aida in Venedig anlegt, sind weniger Menschen auf dem Campo San Marco, als hier, am heutigen Morgen. Welche eine Massenmigration, die Hotels von Siem Reap müssen zeitgleich völlig leer sein. Ich schwitze. Stillstand. Da gibt es Reisegruppen, die sogar alle das gleiche Tshirt tragen. Dann wird ein neuer Kontrollmitarbeiter in Betrieb genommen. direkt vor uns und wir schlüpfen in eine Lücke, ziehen das Tempo an. Dunkelheit umpfängt uns und wir stolpern über uneben verlegte Standsteinquader. Von hinten drängen unendlich viele Menschen nach, ein Touristen-Exodus sondergleichen. Taschenlampen flammen auf und weisen uns den Weg. Wir hängen im Strom, werden mitgerissen und durch das Eingangstor auf den langen, steinernden Weg zum Haupttempel gespült. Hier wird heute kein romantischer Sonnenaufgang stattfinden, da bin ich mir sicher. Wir biegen links ab, raus aus der Menge, die geballt auf die, noch im Dunkel der ausklingenden Nacht liegenden, 5 Türme zustrebt. Am linken Seitentor sitzt in der Stille ein Paar. wir setzen uns dazu. 05:51 Uhr im Osten flammt Röte über den Himmel und ganz langsam werden die Konturen der markanten Türme, wie ein schwarzer Schattenriß sichtbar.



Ich bin völlig perplex, dass hier nur wir Vier sitzen, denn von hier aus hat man das ganze Panorama. Einen unglaublichen Blick. Doch die Massen streben alle nach vorn, wo sich mehrere Hundert Menschen auf engstem Raum drängeln. Der Hall ihrer Stimmen wird von der Akustik der Anlage und den großen Dimensionen verschluckt. Zurück bleibt nur das Geräusch einer erwachenden Welt. Insekten beginnen zu summen, die Vögel beginnen ihre exotischen Lieder zu singen und Grillen beginnen zaghaft mit einer gemäßigten Wedelei. Das Pärchen neben uns scheint auch mehr die Stille zu genießen und so bekommen wir ein unglaubliches Naturschauspiel zu sehen, was einem sicherlich nicht häufig geboten wird. Die Röte der aufgehenden Sonnen färbt die Schwärze der Nacht violett. Was wenige Minuten zuvor noch eine schemenhafte Gestalt war, nimmt jetzt Form an. Das Violett verläuft sich in kürzester Zeit zu einem satten Orange, was die Silhouette von Angkor Wat und besonders der zwei prägnanten, langstieligen Palmen, klar und scharfkantig hervortreten läßt. Die zunehmende Wärme hat den Dunst aus den Wiesen und die Feuchtigkeit der Nacht vom weichen Sandstein vertieben. Durch die musikalische Untermalung verschiedenster Dschungeltiere und dem mantrischen Konzert der Grillen, ist dieses Erlebnis unglaublich. Erneut verändert sich das Farbspiele am Himmel



und das satte Orange verläuft sich in die Höhe zu einem hellen Blau. Rechtsseitig der Türme scheint die Natur nun eine Glühbirne angeschaltet zu haben, denn durch das dichte Dach des Urwaldes, ist ein heller Lichtpunkt zu sehen. Die rotorangen Lichtwellen werden "schwächer" und Gelb beteiligt sich an dem himmlischen Farbspiel. Wie heißt der kitschige Begriff dafür - Götterdämmerung! Besonders an diesem mystisch und spirituell extremst aufgeladenen Ort. Als die Sonne über den Rand des Uraldes steigt, beginnen einzelne Details der Tempel sichtbar zu werden. Mit einem Schlag wird es warm, die Zikaden beginnen mit ihrem kreischähnlichen Konzert und der neue Tag kann beginnen. Auch wenn wir schon Hunderte von Sonnenaufgängen gesehen haben, wird dieser friedliche, bezaubernde und auch magische Moment, doch immer einen besonderen Platz in unserem Herzen haben. Wir wünschen allen einen schönen 3. Advent.



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Marc Luetjens
Marc Luetjens
17 dic 2023
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